U2 - Songs Of Innocence - Review




Bäm! 5,5 Jahre des Wartens endeten völlig überraschend am 9. September 2014 mit der zuvor gänzlich unangekündigten und unerwarteten Veröffentlichung des neuen U2-Albums Songs Of Innocence im Rahmen der Apple-Keynote zum neuen iPhone 6. Es hatten viele auf einen neuen Song oder auch die Ankündigung des neuen Albums gehofft – dass Letzteres aber plötzlich und sofort allen iTunes-Nutzern gratis zur Verfügung stand, hat nicht nur in der U2-Fan-Welt hohe Wellen geschlagen. Egal, ob positiv oder negativ – U2 waren sofort weltweit wieder in aller Munde (und bei den Apple-Usern zusätzlich noch in itunes)! Ein Paukenschlag! Und der Band war vermutlich auch der zwischenzeitliche Shitstorm von itunes-Usern und Musiker-Kollegen relativ egal – der Erfolg gibt ihnen ja scheinbar Recht: Im Zuge der exklusiven Vor-Veröffentlichung von Songs Of Innocence bei iTunes sind weltweit auch die vorherigen Alben in den iTunes-Charts nach vorn geschossen.

Weltweit sind nach der digitalen Veröffentlichung innerhalb von Stunden oder Tagen Reviews zum Album veröffentlicht worden. Wir von u2tour.de haben intern beschlossen, dem Album (und uns) aber Zeit zu geben und die gut vier Wochen bis zur Veröffentlichung der Hardcopy-Formate (CD, CD Deluxe und LP) in Deutschland und Österreich zu nutzen, um uns ein Bild davon zu machen, ob Songs Of Innocence auch den "Langzeit-Test" überstehen würde.

Cover:
Während die digitale Version mit einem neutral weißen Cover mit handgeschriebener Info zum Album-Titel und Veröffentlichungsdatum zur Verfügung gestellt wurde, erhält der physische Release ein eigenes Foto-Cover. Und eine weitere Überraschung: U2 gehen auch hier den Weg der Provokation. Zu sehen ist Larry, der seinen Teenager-Sohn um die Hüfte herum umarmt – beide mit freiem Oberkörper. Die Reaktionen in der Fan-Welt darauf waren sehr gespalten: von "homoerotisch" bis zu "schön, weil beschützend", aber ein sicherlich intern gestecktes Ziel der Band war und ist wieder erreicht: "Es wird über sie gesprochen! Und das, obwohl das Album doch weltweit schon gratis zur Verfügung steht. Dass das Cover jedoch ansonsten stimmig zum Album und seinen Ursprüngen passt, verdeutlicht die Überlegung, dass Larry hier sinnbildlich für die Band die eigene Jugend umarmt. In dieselbe Richtung geht die typografische Besonderheit des Albumtitels: Dass der Titel des Albums nicht Songs Of Innocence, sondern Son gs Of Innocence geschrieben wird, gibt dem Album auch auf diese Weise die programmatische Richtung – und damit fast einen Doppeltitel: Sons / Songs Of Innocence.

Booklet:
Schon bei der digitalen Veröffentlichung wurde das Booklet im PDF-Format mitgeliefert: 24 Seiten mit Texten, Produktionsinformationen und vor allem mit (und das hat es bei regulären Alben so bei U2 noch nicht gegeben) sehr persönlichen Worten Bonos, die die Hintergründe des Albums und der einzelnen Songs beleuchten. U2 haben in verschiedenen Interviews direkt nach der Veröffentlichung darauf hingewiesen, dass Songs Of Innocence ein sehr persönliches Album sei. Das Booklet und nicht zuletzt auch das Cover mit Larry und seinem Sohn greifen dies auf und laden den geneigten Hörer ein, sich darauf einzulassen. Und das funktioniert!

Producers/Production:
Viele Köche verderben den Brei? Viel wurde im Vorfeld über die Einbindung zahlreicher Produzenten beim neuen Album gemunkelt und diskutiert und viele Befürchtungen darüber geäußert, dass gerade durch die Zusammenarbeit mit aktuellen Hitproduzenten wie zum Beispiel Ryan Tedder, seines Zeichens zudem Sänger bei OneRepublic, krampfhaft versucht würde, explizit Hitsingles für die Charts zu produzieren. Neben Tedder waren Danger Mouse, Paul Epworth, Declan Gaffney und Flood an den Reglern. Und auch, wenn man den Songs sicherlich an der einen oder anderen Stelle den Produzenten anhört und vielleicht auch klare Favoriten hat (die durchaus wechseln können), so scheint das befürchtete "Produktionschaos" nicht eingetreten zu sein – klare und eindeutige Schwachstellen lassen sich auf dem Album nicht erkennen. Und damit zu den einzelnen Songs.

01 The Miracle (Of Joey Ramone) – Dirk
Ooooh Ooooh Ooooh Ooooh. Man darf davon ausgehen, dass die Band nach der Get On Your Boots-Enttäuschung dieses Mal alles richtig machen wollte. War die Produktion dadurch ein bisschen zu ambitioniert? The Miracle (of Joey Ramone) ist zwar keine Leadsingle à la Beautiful Day oder Vertigo – besser als Get On Your Boots ist es jedoch allemal. Es ist richtig platziert an Position 1 und ich kann mir The Miracle gut als Opener der neuen Tour vorstellen. Beim Durchhören des Albums fällt es dennoch etwas ab.

Nicht nur beim Intro zu The Miracle nerven mich die ganzen Oooohs. Obwohl es ja ein Markenzeichen U2s ist, übertreiben sie es in diesem Song. Ansonsten aber haut der Song ganz schön rein. Die Gitarren röhren, nur Bonos Gesang ist mir, wie so häufig, zu hoch und manchmal irgendwie gepresst.

Während die Strophen nichts Besonderes sind, hat der Refrain eine nette Melodie und klingt richtig klasse. I woke up at the moment when the miracle occurred bleibt mir schön im Ohr hängen. Das kann man herrlich mitsummen, auch wenn es nur ein Ohrwürmchen ist.

02 Every Breaking Wave – Sebastian
Ja, der Song scheint die Baseline von With or Without You zu haben, was zu Beginn besonders gut zu hören ist. Als Eigenplagiat kann man das aber durchgehen lassen. Und ja, man kann durchaus überrascht sein, wenn man die Album-Version zum ersten Mal hört, aber die gut 4 Jahre alte 360°-Tour-Version noch im Ohr hat. Die war mitnichten fertig, zeigte aber schon damals das Potenzial des Songs.

Doch: Nein, enttäuscht sein kann man nicht, was diese Nummer angeht – auch wenn man noch hoffen kann.

Was U2 uns hier mit Every Breaking Wave präsentieren, ist vielleicht der melodischste Song der Platte. Wann gab es das zuletzt, dass bereits beim Hören des ersten Verses die Musik im Ohr sitzt – und nicht mehr weg will? Der Song wogt so von Vers zu Vers und Strophe zu Strophe. Die Melodien wandern wie eine Welle auf der See, während Bono nautische Begriffe bemüht und dem Song damit ein Gewand anzieht, das von Anfang bis Ende stimmig ist.

Der Titel kündigt diese Metaphorik an, bis zum Ende wird sie konsequent durchgezogen: Ob die Unendlichkeit des brausenden Meeres (Every breaking wave on the shore / tells the next one there’ll be one more), der Kampf auf offener See (Every sailor knows that the sea / is a friend made enemy – im Übrigen der stärkste Vers des Liedes) oder die Stimme des Kapitäns (I thought I heard the captain’s voice). Die Bilder rund ums Meer zeichnen die großen U2-Themen "Kampf mit dem Unbekannten", "Weisheit des Alters", "Unendlichkeit des Seins" oder "Einsamkeit" und passen insofern zur gesamten Linie des Albums – der Rückbesinnung auf die Jugendlichkeit –, denn gerade diese bewegen den Heranwachsenden (ziellos Herumschwimmenden?). Dass Bono lyrisch mit feinem Gespür vorgeht, zeigt nicht nur die winzige Textänderung I thought I heard the master’s voice (2010) zur oben schon zitierten captain’s voice (2014). Captain passt einfach besser zur See.

Komplett neu im Vergleich zur 2010er-Version ist der Refrain. Und er ist das Segment des Songs, das einen etwas ratlos zurücklässt. Gut, man hört hier endlich mehr Edge – bisher hauptsächlich Adam – und die abrupten, eigentlich textlich im Sande versiegenden Verse 1 und 3, werden wunderbar musikalisch aufgefangen. Dennoch wirkt er wie ein Fremdkörper und zu bemüht. Und obwohl er die Wiedererkennbarkeit eines Songs garantieren sollte, sind es doch die Strophen, die im Gedächtnis bleiben.

So bleibt zu hoffen, dass die Deluxe-Edition des Albums, das seit 10. Oktober in den Regalen stehen und einige Akustik-Versionen enthalten wird, eine "Stripped-down-Version" enthält, die vielleicht die besten Teile aus 2010er- und 2014er-Version vereint.

03 California (There Is No End To Love) – Hanna
Bedeutungsschwanger läutet ferner Glockenklang einen nahezu mönchhaften Männerchor ein, der im gleichen Moment seinen beachboyesken Charakter entblößt – Barbara, Santa Barbara – eine klare Hommage an Barbara Ann. Ein nahezu schon etwas aufgesetzt wirkender Surfersound setzt ein, der schließlich von Bonos ekstatischem California durchbrochen wird. Die Reise der Songs Of Innocence führt uns nun nach Kalifornien und berichtet von U2s erster Reise über den großen Teich Anfang der 80er Jahre.

Im krassen Gegensatz zum isolierten und trostlosen Dublin werden die Bandmitglieder in Kalifornien überflutet von einer Woge aus neuen Eindrücken und schier unendlichen Möglichkeiten – der American Dream hat U2 den roten Teppich ausgerollt. Bereits am Flughafen von Los Angeles sind die jungen Musiker aus Irland vollkommen überwältigt, es hätte sich wie im Film angefühlt, nur besser.

Während Ihres Aufenthaltes pilgert Bono zu Brian Wilsons Haus. Wilson gilt als das Mastermind der Beach Boys, seine hohe Falsettstimme ist sein Markenzeichen. Bono musste schon während der ersten Bandproben von The Hype einsehen, dass seine Stimme nie wie die der typischen 70er-Jahre-Punkrocker klingen würde ("I sang like a girl") und fand nicht zuletzt in Brian Wilsons eigenwilligem Gesang Zuspruch und eine gewisse Verbundenheit, denn "Brian sang like a girl too". Neben den Ramones und The Clash spielten die Beach Boys eine maßgebende Rolle für U2s musikalische Prägung. "I loved the Beach Boys, they brought rhythm for the body, harmony for the mind [...]”.

Mit California wollen U2 genau diesem Anspruch gerecht werden: der von Declan Gaffney (war bereits Assistant Engineer bei No Line On The Horizon oder mixte u.a. Get on your Boots ab) produzierte Song ist leichtfüßig und poppig – Easy Listening für lange Autofahrten auf endlosen, sonnendurchfluteten Landstraßen, gleichzeitig prädestiniert als Single für die Heavy Rotation eines beliebigen Kommerzradiosenders. Wenige Tage nach dem Release von Songs Of Innocence wird California in Fankreisen vergleichsweise stiefmütterlich behandelt: zu wenig Tiefgang und zu viel Aufgesetztheit lautet der mehrheitliche Tenor.

Trotzdem macht California mit jedem Hören mehr Spaß und versprüht die Euphorie über die Eroberung und Entdeckung einer bis dato utopisch wirkenden Welt (sei sie geographisch, spirituell oder musikalisch). Abgerundet durch Edges erfrischendes Gitarrensolo und den obligatorischen Ohohohs stellt Bono im Refrain immer wieder fest: All I (need to) know is there is no end to love. Nur bei genauerem Hinhören erfahren wir, dass diese Gewissheit vor allem aus der Erkenntnis gewonnen wird, dass auch die bitteren, dunklen Seiten des Lebens kein Ende nehmen: There is no end to grief. That's how I know there is no end to love.

Best Lyric: There is no end to grief. That's how I know there is no end to love

04 Song For Someone – Andy
Song For Someone erinnert anfänglich etwas an Sometimes You Can't Make It On Your Own: die Akustikgitarre, Larrys beat ... und dennoch liegen musikalisch Welten dazwischen (eines vorweg: Sometimes ist für mich das bessere Lied). Die Nummer fängt ruhig an, aber nicht zu lahm, und verpasst dem Hörer textlich gleich einmal einen charmanten Einstieg: You've got a face not spoiled by beauty. Okaaaaay ... Schwamm drüber, es geht ja weiter.

Die Musik ist dem Text von Anfang an perfekt angepasst. Edge als zweite Stimme oder auch nur als "Mitsummer" in der zweiten Strophe ist gut erkennbar und macht das Ganze zu einer typischen U2-Nummer, die auch auf früheren Alben ihren Platz gefunden hätte. Vor allem der zweite Pre-Chorus (I was told I'd feel ...) ist gut gelungen, das darauffolgende typische Edge-Solo (eines seiner typischsten auf der Platte) passt melodisch auch gut dazu.

Das Highlight kommt zum Schluss: das Erstummen der Instrumente am Ende von And there is a light / don't let it go out ist der Teil, der am meisten hängen bleibt. Wohl keine charmante Kritik, wenn der Höhepunkt eines Songs das Ende ist, aber seien wir uns ehrlich: Bono war auch am Anfang nicht nett zu uns! ;)

Song For Someone wird uns sicher auf der Tour begleiten, als Halb-Akustiknummer ist er wohl auch für die Lagerfeuer-Sessions in der Setlist gesetzt. Er versprüht einen gewissen (ja, jetzt kommt das Wort wieder) Charme, eine Lockerheit und lässt sich auch gut anhören. Er mag vielleicht live sogar groß auftrumpfen. Momentan könnte er aber einer der ersten Skip-Kandidaten werden.

05 Iris (Hold Me Close) – Navid
Bei einem Blick in die Vergangenheit darf Iris Hewson nicht fehlen. Iris (Hold me Close) ist bereits der vierte U2-Titel, welcher sich mit Bonos früh verstorbener Mutter beschäftigt, textlich ist es wohl auch der Persönlichste (Iris says that I will be the death of her / It was not me). Gitarrentechnisch hört man den klassischen U2-Sound, auch Adams Bassline klingt vertraut. Der Klangteppich jedoch ist ungewöhnlich und ähnelt stellenweise Coldplay's Ghost Stories-Album. Laut Fanforen soll Chris Martin im Hintergrund zu hören sein [Anmerkung: in den Credits wird er nicht angeführt], was möglich ist, wenn wir uns an die Electric-Lady-Studio-Sessions zurückerinnern.

Schon nach ein paar Takten der ersten Strophe sehnt man sich einen pompösen Refrain herbei, dieser jedoch versteht es durch seine Länge die bis dahin aufgebaute Spannung sowie Tempo etwas zu dämpfen. Erst mit Larrys Einstieg und spätestens bei I've got your life inside of me möchte der Zuhörer (in diesem Fall ich) sich den Text von der Brust schreien. Sehr dick aufgetragen von U2, was aber bei der Thematik auch völlig in Ordnung geht. Auch die Bridge (I dream / Where you are / Iris standing in the hall) macht Lust auf mehr, ist sowohl textlich als auch musikalisch der Höhepunkt des Songs und bereitet den Weg für ein schönes Ende vor. Einzig Edges bis dahin sauberer Gitarrenklang könnte im Coda ein wenig mehr "heulen". Das Lied hat seine starken als auch schwachen Momente, gewinnt jedoch mit jedem Hören und weiß zu gefallen.

Iris (Hold me Close) ist, was es ist: eine Collage an Erinnerungen aus Bonos früher Jugend und schöne Hommage an seine Mutter, gepaart mit emotionalen Lyrics und ein wenig Pathos.

"I owe Iris. Her absence, I filled with music” schreibt Bono im Booklet. Hast du Bono, und das sehr gut.

Best Lyric: "I thought that I was leading you / But it was you made me a man / Machine".

06 Volcano – Andy
"After grief comes rage ... the molten lava that turns to rock if it can". Beim Lesen der Liner Notes wird einem schnell bewusst, warum Volcano auf Iris (Hold Me Close) in der Playlist folgt (es wäre wohl auch nicht verwunderlich, wenn die Reihenfolge bei der kommenden Tour eingehalten wird). Es geht direkt zügig zur Sache: Larry weckt einmal den Zuhörer auf und der wummernde Clayton-Bass aus Iris geht hier noch angezerrter weiter. Wir sind schon bei Lied 6 und es ist irgendwie die erste (und letztlich auch einzige) Nummer, die ein bisschen nach "dreckigem alten Rock" klingt. In der Strophe ein paar Effekte über Bonos Stimme á la Zoo Station und Edge schrammelt etwas vor sich hin. Aus Lyrics wie Hold me close and don't let me go wird auf einmal You can hurt yourself tryin’ to hold on / to what you used to be / I'm so glad the past is all gone. Eine doch ernstere Nummer, denkt sich der Hörer ...

Dann der Refrain und der rockt einfach. Klar, im ersten Moment muss man lachen, wenn man Bonos Vol-ca-no hört, die Musik ist geil, aber Bono!? Ok, nach dem fünfzigsten Durchgang ist auch das verziehen und die Nummer rockt tatsächlich gewaltig. Das versetzte rotzige Spiel von Adam und Edge im Refrain passt perfekt. Das letzte Mal bewusst wahrgenommen, habe ich diese versetzten Noten zwischen Bass und Gitarre bei Parallel Universe von den Peppers, wenn auch in völlig anderem Tempo.

Was U2 hier abliefern, ist ein absolut perfektes Gesamtpaket an Rock'n'Roll, das auch live ziemlich zünden dürfte, nicht zuletzt wegen des schönen Mitsingteils ab 2:08: die Steigerung durch den Chor sorgt schon für Anspannung, man merkt, dass sich der Höhepunkt des Liedes anbahnt. Auf einmal hört man bekannte Töne von Adam ... "Warte mal, ist das nicht das ... wie war das nochmal, Stingray-, nein, Glastonbury-Riff?" Bevor man den Gedanken fertig hat, betritt Edge die Runde ... und wie! Beim ersten Mal hat man nur einen breiten Grinser übrig – gut eingebaut, bietet der Nummer die nötige Abwechslung und als Gesamtpaket runder als Glastonbury.

Volcano-Tour 2015? Warum nicht. Do you live here or is this a vacation? wird sich der eine oder andere von uns wohl nächstes Jahr noch öfter von anderen Pilgerreisenden anhören müssen.

07 Raised By Wolves – Caro
Thematisch steht der wohl ungewöhnlichste Song des Albums in einer Reihe neben Sunday Bloody Sunday, Please oder auch Bullet The Blue Sky. Ein U2-Album gänzlich ohne Protestsong wäre auch schwer vorstellbar und so ist der siebte Unschuldssong Raised By Wolves. Darin wird eindrücklich ein Freitag in Dublin beschrieben. Es war der Nachmittag des 17. Mai 1974, an welchem kurz hintereinander drei Autobomben in der Dubliner Innenstadt und in Monaghan, im Norden Irlands, detonierten und 33 Unschuldige (good people) in den Tod rissen. Der Song beginnt mit einem finsteren, fast schon drohenden Bellen, bevor der Zuhörer unvermittelt in die Szene nach den Explosionen mitgenommen wird. Dort wird gleich sehr bildlich die Brutalität der Anschläge dargestellt und von der Blutlache auf dem Boden (a red sea covers the ground) gesungen. Auch in der dritten Stufe ist der Zuhörer direkt mit der Gewalt konfrontiert, abermals mit dem Blut auf Straßen und Häusern. Aber auch Details des Anschlages werden benannt, das Kennzeichen 1385-WZ hatte der gestohlene Wagen, mit dem die zweite Bombe explodierte.

Als Übergang zum Refrain fungiert die Zeile I don't believe anymore, was fast schon unschuldig naiv als Reaktion auf die beschriebene Situation zu verstehen ist. Im stark von religiösen Auseinandersetzungen geprägten Irland dieser Zeit drückt diese Zeile fast schon naiven Trotz aus. Auch die Zeile aus dem Refrain, die an einen Albtraum erinnern lässt, deutet auf ein Unverständnis für die Situation und ein Nicht-wahr-haben-Wollen hin (If I open my eyes / You disappear)

Zum Schluss soll noch auf die Ambivalenz der Thematik zum Albumtitel hingewiesen werden. Es ist wahrlich kein Lied über Unschuld, ganz im Gegenteil. Aber die genauen Hintergründe konnten nie aufgekrlärt werden und die Hinterbliebenen kämpfen auch noch 40 Jahre danach um die Veröffentlichung sämtlicher Daten. Somit ist die Frage der Schuld nicht geklärt.

08 Cedarwood Road - Caro
"Aha", wird sich der gut informierte U2tour.de-Leser beim ersten Blick auf Song #8 der Songs Of Innocence gedacht haben, "schreibt der Bono also Lieder über die Straße, in der er aufwuchs."
Kurz nach seiner Geburt im Jahr 1960 kauften Bob und Iris Hewson das Haus in der Cedarwood Road Nummer 10, im nördlichen Stadtteil Ballymun. Die Cedarwood Road erscheint damals wie heute als ruhige Vorortstraße mit den so typischen Doppelhaushälften in Grau und den gepflegten Vorgärten. Soweit zu den Rahmenbedingungen.

Wenn in dem Song von Freundschaft die Rede ist (And friendship once it's won; It's won... it's one meint das sehr wahrscheinlich die Herren Guggi (Hausnummer 5) und Gavin Friday (Hausnummer 140). Die sind in der gleichen Straße aufgewachsen und seit der ersten Begegnung mit Bono nicht mehr aus seinem Leben und künstlerischen Umfeld wegzudenken. Der Song beschreibt genau diese Zeit des Heranwachsens in der Cedarwood Road. Die "warzone in my teens"-Beschreibung ist wohl eher auf das Seelenleben zu beziehen als auf gewaltsame Auseinandersetzungen. Auch der versteckte Schmerz (The hurt you hide, the joy you hold) deutet darauf hin, dass dieser Song eher die emotionale Welt des heranwachsenden Bonos beschreibt: Im Alter von 14 starb mit seiner Mutter Iris die wohl wichtigste Bezugsperson, die Beziehung zu seinem Vater Bob in dieser Zeit beschrieb er meist als schwierig. Halt gab es dann bei den Freunden, dem Lipton Village.

Dennoch klingt Cedarwood Road nicht nach einem traurigen oder gar wütenden Klagelied. Es wirkt vielmehr kraftvoll, denn aus den Verbindungen, die das Lipton Village hervorbrachte, sind große Freundschaften erwachsen. Die Kraft des Songs wird auch musikalisch durch einen großen Anteil von Edges Gitarre ausgedrückt. Gleich zu Beginn kommt ein recht schroffes Riff, wohl das härteste des ganzen Albums, das an das 2009er Breathe erinnert. Der Song ist aber auch sehr melodisch und setzt sich leicht als Ohrwurm fest. So bleibt bisher nur die Vermutung, dass Cedarwood Road bei einem Konzert in Dublin wohl einen sehr emotionalen Moment hervorrufen könnte.

Best Lyric: Paint the world you need to see

Funfact: Den beschriebenen Kirschbaum (And that cherry blossom tree was a gateway to the sun) ereilte übrigens das gleiche Schicksal wie den Joshua Tree: Er steht leider nicht mehr. Doch entgegen des natürlichen Schicksals hat hier die Stadtverwaltung nachgeholfen und den Baum aufgrund der Wurzelschäden am Fußweg kurzerhand fällen lassen.

09 Sleep Like A Baby Tonight - Oliver
U2 haben sich ja schon öfters problematischen Themen angenommen. Vom Nordirland-Konflikt über den Bosnienkrieg bis hin zu Diktaturen wie z.B. in Myanmar. Mit Sleep Like A Baby Tonight wagen sich U2 aber an ein deutlich schwierigeres, weil sensibleres Thema: Psychische und physische Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in kirchlichen Einrichtungen.

Wie schwierig das ist, zeigte zum Beispiel die kontroverse Diskussion um Peter Mullans Spielfilm Die unbarmherzigen Schwestern, der im Jahre 2002 erschien und die Gewalt in kirchlichen Mädchenheimen Irlands thematisierte. Gerade in Irland mit seiner überwiegend katholischen Bevölkerung und seinem Jahrhunderte währenden Konflikt mit dem protestantischen England ist die Bindung der Bevölkerung zur Kirche auch heute noch wesentlich stärker und intensiver als in vielen anderen Ländern.
Doch als im Jahre 2009 zwei Untersuchungsberichte veröffentlich wurden und das gewaltige Ausmaß von Gewalt und Missbrauch belegten, waren die Tatsachen nicht mehr zu ignorieren. Ganz Irland stand unter Schock und unter dem öffentlichen Druck mussten zahlreiche hohe Geistliche (darunter 5 Bischöfe) von ihren Ämtern zurücktreten. Sie hatten nicht nur die Missbrauchsfälle Jahrzehnte lang vertuscht, sondern waren teilweise auch selbst daran beteiligt. Kirchliche Einrichtungen wurden sogar öffentlich als "Houses of Horror" bezeichnet.

Die musikalische Umsetzung beginnt unscheinbar: Frühstück mit Tee und Toast und einem Blick in die Tageszeitung. Ein ganz normaler Morgen also. You dress in the colours of forgiveness und Purple robes are folded on the kitchen chair lässt uns ahnen, dass es sich hier um einen kirchlichen Würdenträger handelt. Auch der erste Refrain Sleep Like A Baby Tonight scheint die friedliche Stimmung zu bestätigen. Und doch ist alles nur eine Scheinwelt. Als nach ca. 1:30 Edges Gitarrensound einsetzt, ändert sich die Stimmung, wird düsterer, ja beklemmend. Und im Text mehren sich nun die Andeutungen, dass hier nicht alles so friedlich ist, wie es scheint. Die heile Welt hat nichts mit der Realität zu tun, sondern ist nur Schein. Wer schläft, sündigt nicht ... Während Bonos Gesang weiterhin eine beruhigende, ja fast schon einschläfernde Stimmung verbreitet, entgeht uns dabei fast die Realität der Texte. Hope is where the door is. When the church is where the war is. Where no one can feel no one else's pain lässt uns nur erahnen, welch schreckliches Geheimnis sich hinter der Fassade der heilen Welt verbirgt. Gegen Ende bietet uns ein Solo von Edges Gitarre die Möglichkeit zur Spekulation, zum Nachdenken.

Mein Fazit: Die musikalische Umsetzung dieses sensiblen Themas ist gelungen. Auch, weil es in den Texten nur Andeutungen gibt, statt auf bestimmte Vorkommnisse im Detail einzugehen. Der Hörer wird somit nicht zum Voyeur, sondern kann selbst entscheiden, ob er sich mit dem Thema beschäftigen oder doch lieber nur der Musik lauschen möchte. Sicher wird man dieses Lied nicht sehr oft im Radio hören (wenn überhaupt). Trotzdem halte ich es für eines der wichtigsten Lieder, die U2 in den letzten 20 Jahren veröffentlicht haben. Und leider muss man wohl davon ausgehen, dass das Thema auch in vielen Jahren immer noch aktuell sein wird.

10 This Is Where You Can Reach Me Now - Sabine
U2 waren und sind immer noch eine politische Band; in ihren Songs (oft) und fast noch mehr in ihren außerkurrikularen Aktivitäten. This is where you can reach me now nimmt genau darauf Bezug – gewidmet Joe Strummer, dem 2002 viel zu früh verstorbenen Frontmann von The Clash, der U2 nachhaltig beeindruckt und beeinflusst hat. Im Booklet von Songs Of Innocence beschreibt Bono die Bedeutung von The Clash für die eigene Band-Identität und wie der erste Besuch eines The-Clash-Konzerts die gesamte Band in ihrem Denken "revolutionierte".

"Joe Strummer was some soldier … his guitar a weapon, his mouth almighty", schreibt Bono in den Liner Notes und "we weren't sure exactly what they (The Clash) were fighting for/against but this was a public service announcement with guitars on behalf of the soul and we signed up". Genau an diesem Punkt setzt This is where you can reach me now ein. Soldier soldier, we signed our lives away. Complete surrender, the only weapon we know beginnt der Song – kämpferisch gegen Unrecht (soldier), dabei aber immer mit friedlichen Mitteln (surrender). U2 blicken hier auf die eigene Musik-Geschichte zurück, nicht zuletzt sicherlich auf die weiße Flagge der War-Ära. Vielleicht aber auch nicht nur zurück? Vielleicht suggeriert der Song-Titel auch den Bezug zu heute? Da ist sicher Spielraum für Diskussionen um U2s soziales Gewissen.

Produziert von Danger Mouse beginnt der Song mit einer Art Marsch-Rhythmus, der den Kampf-Gedanken aufnimmt, der aber auch sogleich durch ein Keyboard und einsetzende möwenähnliche Laute in eine andere (friedlichere?) Richtung gelenkt wird. Musikalisch erinnert der Song dann durchaus an den früheren Sound von The Clash – eingängig im leichten Dub-Sound.

Interessant übrigens, dass man auch bei der überraschenden und kostenlosten Veröffentlichung von Songs Of Innocence durchaus Parallelen zu The Clash ziehen kann: die hatten nämlich ihre Doppel-, bzw. Triple-Alben London Calling (1979) und Sandinista! (1980) nach hartem Kampf mit der eigenen Plattenfirma CBS damals zum Preis eines normalen Einzel-Albums veröffentlicht (bzw. Sandinista mit nur 20 % Aufschlag). Vielleicht ist diese U2-Überraschungsaktion trotz aller Kritik aus verschiedenen Richtungen ja doch "Punk"?

Fazit: ein eingängiger Song, der live sicherlich gut ankommen wird und in dem die Band sich mit der eigenen politischen und musikalischen Inspiration auseinandersetzt.

11 The Troubles - Hans
Beim ersten Hören war The Troubles der Track, der mich am meisten gepackt hat. Vielleicht lag es daran, dass der erste Durchlauf der Platte nachts mit Kopfhörern erfolgte. Die bedrohliche, düstere Stimmung und die eindringliche Stimme von Lykke Li erinnern ein einen Psychothriller. Der Wechselgesang von Bono und Lykke wirkt wie die Verfolgung eines Opfers durch den Täter, und zwar rein auf emotionaler Ebene.

Die Wirkung wird durch die für U2 eher ungewohnte Instrumentalisierung verstärkt. Zur Gitarre, die an einen Spaghettiwestern erinnert, hat man ein Streichertrio dazugenommen. Diese Kombination trägt den U2-untypischen Sound. Typisch ist der Sound hingegen für Danger Mouse, der bei seinen Projekten schon mehrere solcher Songs produziert hat.
Es ist ganz gut, dass man sonst keinen anderen Produzenten an den Song gelassen hat. Somit bildet er den tollen Abschluss der "Danger Mouse"-Trilogie des Albums und damit für mich den Höhepunkt des Albums.

Schade ist lediglich, dass das Solo von Edge am Ende ausgefadet wird. Aber vielleicht wurde dies bewusst so gewählt und passt so zum Beginn des Nachfolgealbums.

Bei den anstehenden Liveshows erwarte ich den Song nicht allzu oft. Er ist aber ein Kandidat für den Outro-Song, der nach der Show über die PA läuft.

Keylyric: Somebody stepped inside your soul (was sonst).


Fazit:
Man kann schon behaupten, dass U2 mit diesem Album ein Überraschungscoup gelungen ist; nicht nur mit der Art und Weise der Veröffentlichung sondern durchaus auch mit dem Inhalt. Frisch klingen die Songs und bei weitem nicht so angestrengt und "gewollt" wie vielfach im Vorfeld vermutet, bzw. befürchtet. Die Band blickt zurück auf die eigene (Musik)Geschichte und lehnt sich auch an manchen Punkten an Stimmungen älterer Werke an, ohne sich selbst jedoch billig zu kopieren. Es sind eher subtile Zitate; ein Song wie Sleep Like A Baby Tonight hätte zum Beispiel auch gut auf das Achtung Baby-Album gepasst. Und es gilt eh: Wer darf denn zitieren, wenn nicht der Künstler selbst?Songs of Innocence ist ein Album, dass es verdient, dass man sich damit ein wenig intensiver beschäftigt, musikalisch und textlich und nicht zuletzt auch mit dem Artwork. Beim ersten (und vielleicht auch beim zweiten oder dritten) Hören bietet das Album sicherlich keine Ohrwürmer oder "Gassenhauer". Es ist eher ein Album, das langsam wächst und sich festsetzt - die Erfahrung zeigt aber, dass dies oft die Werke sind, die einen lange begleiten. Da U2 schon immer eine Live-Band waren und auch immernoch sind, werden die neuen Songs ihre wahre Bewährungsprobe allerdings erst bei der (hoffentlich baldigen) nächsten Tour erleben und für den ein oder anderen, der sich mit dem Album jetzt noch nicht so recht anfreunden kann, eventuell dort ihre zweite Chance nutzen können. Wir sind gespannt! Auch auf das schon angekündigte (ohne Termin bisher!) Folgealbum Songs of Experience!
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