Sing your heart out (Foto: Hans für U2tour.de)
Meine Tour-Premiere in Mailand war natürlich geradezu prädestiniert dafür, überwältigt zu sein. Denn auch wenn ich die Show als eine der schwächeren in Erinnerung habe, so war der Anblick der Bühne vom Oberrang des San Siro atemberaubend. Im größten Stadion Italiens, welches mit seiner Höhe die gesamte Stadt überragt, schien die Claw tatsächlich verhältnismäßig normal dimensioniert; dafür kamen Design und Lichteffekte von meinem Platz aus voll zur Geltung.
Die unterschiedliche Wirkung der Bühne in den verschiedenen Venues stellt für mich eine der bleibenden Erinnerungen an die Tour dar. Im San Siro noch überschaubar, kamen die Ausmaße des Monsters in Berlin voll zur Geltung. In Amsterdam füllte das Konstrukt mehr als den halben Innenraum, in Züricher Letzigrund mutete das Verhältnis zur Höhe des Stadions surreal an - ein beinahe 52m Ungetüm, in einem Stadion, dessen Dach nicht halb so hoch ist. Frankfurt widerrum bot durch die Lage in der Einflugschleuse des Flughafens faszinierende Momentaufnahmen, wenn ein Jumbo im Steilflug über das Dach der Bühne hinwegglitt.
The Claw, Croke Park Dublin © Kristian Strobech profile, U2 360° Tour at Croke Park, CC BY 2.0
Ebenso vielseitig wie die Wirkung der Bühne in den unterschiedlichen Umgebungen: die Wahrnehmung der Show von unterschiedlichen Standpunkten aus. Ob unter einer der beweglichen Brücken innerhalb des Laufstegs, weiter entfernt im Innenraum mit Frontalansicht oder auf einem Sitzplatz seitlich der Bühne - die Tour bot etliche Perspektiven und jede hatte ihren ganz eigenen Charme. So ganz '360' wie der Namen suggeriert war das Bühnenkonzept dann zwar doch nicht, die Zuschauer 'hinter' der Bühne saßen eindeutig entgegen der Showrichtung, doch gemessen am Preis von ganzen 35 Euro kamen auch sie auf ihre Kosten. Unterm Strich wurde die Intention, die Distanz zwischen Band und Publikum zu brechen, in meinen Augen erfolgreich umgesetzt. Wer früh queuete und sich im wahrsten Sinne des Wortes als 'Teil des Inner Circles' fühlen durfte, der war tatsächlich mittendrin statt nur dabei.
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f Adam wears that velvet dress - Der Jazzman auf einer der Verbindungsbrücken der 360° Bühne
(Foto: Hans für U2tour.de)
Ground Control to Major Tom - wer mit der futuristischen Claw in den Stadien dieser Welt landet, der hätte sich wohl keinen passenderen Song als Intro aussuchen können. Bowies Klassiker, gefolgt von Soon ist für mich seither untrennbar mit der 360° Tour verbunden, ein Gänsehautmoment jedesmal aufs Neue. Was den Opener angeht, so hätte ich mir gewünscht, dass Breathe seinen Platz nicht für das Return of The Stingray Guitar Instrumental hätte räumen müssen. Larrys Solo-Einstieg war nach meinem Geschmack der deutlich bessere Einstieg.
Mit der Songauswahl war ich im Großen und Ganzen zufrieden,
insbesondere während des ersten Legs, da mit Unknown Caller eine meiner
Lieblingsnummern regelmäßig in der Setlist auftauchte. 2010 überraschte die Band dafür positiv, als sie mit North Star, Every Breaking Wave, Mercy and Glastonbury immerhin vier neue Songs präsentierte. Dass die Darbietung häufig etwas holprig war, sei verziehen, die Freude darüber, neues Material zu hören überwog eindeutig.
Bei einer Bühne dieses technischen Ausmaßes bestimmt das Stage Design die Songauswahl indirekt mit, bestimmte Nummern können vor dieser Kulisse verloren wirken. So geschehen mit In A Little While, eigentlich einer meiner Favoriten, bei dieser Tour konnte er mich jedoch nicht überzeugen. Ein Song, der hingegen wie für die Claw geschrieben zu sein schien und deshalb mein persönliches Highlight: Until The End Of The World. Mit dem Strom, den die Bühne bei diesem Song verbraucht hat, hätte man vermutlich ein Jahr lang eine Kleinstadt versorgen können, aber jede Kilowattstunde war es wert ;)
They found grace inside a sound: The Edge und Larry auf der 360° Tour (Fotos: Sabine für U2tour.de)
Andere Songs gewannen im Setting der Claw sogar an Qualität – City Of Blinding Lights etwa ist für mich eigentlich eher ein Streichkandidat, im Rahmen der 360° Tour hat er mich hingegen überzeugt.
Ironischerweise war der am häufigsten "gespielte" Song zugleich der, auf den ich am ehesten hätte verzichten können: I’ll Go Crazy If I Don’t Go Crazy Tonight führt die Liste mit 111 Darbietungen bei 110 Konzerten an – beim zweiten Barcelona Konzert wurde neben dem Remix zur Mitte der Show noch die Albumversion im Zugabenblock gespielt. Letztere hätte ich gerne öfter gehört. Intention des Remixes war es laut Bono, die Zuschauer zwischenzwei Setlist-Blöcken zu desorientieren. Auch wenn das optisch und dramaturgisch recht eindrucksvoll wirkte: Für mich war die Richtung klar: Ich orientierte mich während des Remixes auf direktem Weg zur Toilette oder zum Getränkeholen :)
Bono tauscht seine Ultraviolet-Jacke gegen ein Schweinsteiger-Trikot
(Foto links: Sabine für U2tour.de, Foto rechts: Conny Wittmann für U2tour.de)
Überraschungen gelangen der Band sicher mit zwei Nummern, die im Zugabenblock gegeneinander getauscht wurden: sowohl Ultraviolet als auch Hold Me, Thrill Me, Kiss Me, Kill Me hatte man zuvor letztmals während der Zoo TV, bzw. der Popmart Tour live erleben können. Womit ich auch beim aus meiner Sicht beinahe einzigen Manko der Tour wäre: bei keiner anderen U2 Tournee habe ich so schmerzlich Songs von Pop und Zooropa vermisst. Man stelle sich einmal vor: Lemon auf der grell gelb erleuchteten Claw oder Numb mit Edge Close-Up auf dem zylinderförmigen Video-Screen, Last Night On Earth oder Gone unter Einsatz der Spots und Stroboskope – was für Möglichkeiten! Dass Zooropa es am Ende in die Setlist schaffte – prima –aber da wäre noch mehr möglich gewesen.
Zum Sound erinnere ich mich an unterschiedlichste Urteile, einge davon ziemlich vernichtend. Vielleicht hatte ich einfach nur Glück, aber das was Joe O' Herlihy aus dem massiven Soundsystem herausholte, konnte mich bei meinen Shows fast durchweg überzeugen. Die Herausforderung, eine vollständige 360 Grad Abdeckung zu gewährleisten, war natürlich enorm und von viel 'Learning by doing' geprägt. O'Herlihys Ansprüche waren von Anfang hoch: "Sonic Qualität, hoher Dynamikumfang und kristallklarer Stadionklang". Um dies zu gewährleisten setzte das Team auf eine komplett neue Technologie, eine grundlegende Abkehr von dem System, auf das O' Herlihy bei vorangegangene Stadiontourneen gesetzt hatte. Ob jeder am Ende mit dem Ergebnis zufrieden war kann und möchte ich nicht beurteilen, dafür bin ich allein schon nicht penibel genug. Auf jeden Fall sprachen viele Experten davon, dass diese Tour den Stadionsound neu definiert habe.
Fans performen Angel of Harlem auf der 360° Bühne in Berlin (Foto: Conny Wittmann für U2tour.de)
Unterm Strich schwelge ich wunderbaren Erinnerungen an die 360° Tour. Noch nie hatte mich eine Live-Inszenierung so fasziniert, noch nie hatte
ich so viel Freude daran, Freunde und Bekannte erstmalig mit zu einem
U2 Konzert zu nehmen - 360° war in dieser Hinsicht eine todsichere
Nummer, hinterließ staunende Gesichter und ungläubige Blicke.
Höhepunkte, die mir spontan einfallen: die Performance von Angel Of Harlem durch drei Fans im Berliner Olympiastadion, Bonos perfekter Italienisch Part während Miss Sarajevon im San Siro, Bonos kreative Vorstellung der Bandmitglieder, die Spielfreude der Band bei eigentlich jeder Show, Adam mit nacktem Oberkörper im Züricher Regen, ein Anblick der wohl selbst jeden Hetero-Mann kurz seine sexuelle Orientierung anzweifeln lässt ;) und natürlich: Snow Patrol! Immer wieder Snow Patrol, der meines Erachtens beste Support, den U2 jemals hatte. Dort, wo die Band für U2 eröffnete, fand mit 'Run' eines der Highlights bereits statt, bevor Bono, Edge, Adam und Larry die Bühne betreten hatten.
Kleiner Wermutstropfen: um die Bilder in menem Kopf aufzufrischen werde ich wohl regelmäßig Fotoaufnahmen oder Youtube bemühen müssen, denn der offizielle Konzertfilm "Live at Rose Bowl" ist in meinen Augen die schlechteste Veröffentlichung, die U2 bisher zu einer Tournee herausgebracht haben. All das, was die Tour so einzigartig und fantastich gemacht hat, finde ich darin nicht im Ansatz wieder. Darum bin ich dankbar für all die schönen Erinnerungen, die ich an U2s "spaceship-on-four legs" agbespeichert habe. Wann immer ich an die Zeit zurückdenke, 'spielt die Band in meinem Kopf einen Striptease.'