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Songs of Experience - eine erste Rezension

Nur noch drei Tage, dann erscheint U2s 14. Studioalbum "Songs Of Experience".
Gernot Schödl, Gitarrist von "TribU2 - A Tribute To U2" hatte vorab offiziell die Gelegenheit, das Album für uns anzuhören.
Hier seine Rezension - exklusiv für U2tour. Vielen Dank dafür!

U2 - Songs Of Experience (SOE)
Rezension von Gernot Schödl (www.tribu2.at)

Zunächst zu den Fakten:

SOE wurde in Dublin, New York und Los Angeles aufgenommen und ist der 2. Teil des an William Blakes (englischer Dichter des 18. Jahrhunderts) Sammlung "Songs of Innocence and Experience"angelehnten Gedichtbands. Bono ist dabei dem Rat des irischen Dichters und Professors am Trinity College in Dublin, Brendan Kennelly, gefolgt, die Texte so zu schreiben "als ob er tot wäre". Das Ergebnis sind intime Briefe an Orte und Menschen wie seine Familie, Freunde, Fans und ihn selbst.

Das Album wurde von 5 Produzenten produziert, darunter Altbekannte wie Steve Lillywhite und Jacknife Lee, sowie Ryan Tedder (war bereits beim letzten Album dabei) und Andy Barlow. Ryan Tedder ist nicht nur als Singer und Songwriter von "One Republic" bekannt, sondern war in den letzten Jahren auch als Produzent federführend für zahlreiche Welthits mitverantwortlich. Andy Barlow ist mit elektronischen Downbeat Produktionen seiner Band "Lamb" bekannt geworden. Der Einfluss insbesondere der beiden Letzteren auf SOE ist deutlich hörbar. Und hier beginnt nun die eigentliche Rezension:

SOE ist kein einheitliches, homogenes Werk geworden. Es ist U2s Versuch, die "eierlegende Wollmichsau" zu kreieren. Ist das die "Experience", die uns U2 nach 40 Jahren Schaffensdrang vermitteln will? Genau darin liegt das "Problem" des Albums - es ist weder Fisch noch Fleisch.
Rock-Album? Auf keinen Fall! The Edge's treibende Gitarren sucht man auf diesem Album vergebens. Ein Pop-Album? Niemals! Poppig ist höchstens die erste Single-Auskoppelung "You Are The Best Thing". Elektronik-Album? Auch nicht! Ein roter Faden ist nicht zu erkennen. Genau das hat U2s Klassikeralben wie "The Joshua Tree" und "Achtung Baby" jedoch ausgezeichnet. Alben aus einem Guss, vom Anfang bis zum Ende. Was auch daran liegen mag, dass an diesen Alben jeweils nur zwei Produzenten beteiligt waren. SOE zeichnet sich großteils durch den Drang aus, eingängige Melodien mit zeitgemäßen Arrangements in möglichst radiotauglichem Format abzuliefern.

Wenn ich das Album ganz kurz beschreiben müsste, wäre das vermutlich "Bonos erstes Solo-Album". Star und Hauptakteur des Albums ist eindeutig Bono. Stimmlich besser als je zuvor, mit grandiosen Melodien, die jenen der Beatles zum Teil um nichts nachstehen. Alles andere reiht sich hinten an.
The Edge? Ist der Gitarrist von U2. Hat er auch auf diesem Album gespielt? Klavier ja, Synthesizer bestimmt, Backing Vocals selbstverständlich - Gitarre auch? Was bei Songs Of Innocence (SOI) seinen Beginn genommen hat, setzt sich auf SOE nahtlos fort - U2 ist ein wesentlicher Bestandteils ihres Sounds abhanden gekommen - die markante Gitarre. Die versteckt sich, wenn überhaupt vorhanden, ganz weit hinten im Mix oder schafft ausschließlich sphärische Sounds, die man sonst eher Keyboards oder Synthesizern zuordnen würde. Markante Edge-Sounds und tragende Gitarren-Riffs sucht man auf diesem Album vergeblich. Ob das daran liegt, dass gitarrenlastige Musik heute generell kaum mehr im Radio gespielt wird? Oder daran, dass auch Bands wie zB Coldplay oder Maroon 5 ihre musikalischen Wurzeln nahezu verlassen haben, um "zeitgemäßer" zu klingen? Möglicherweise.

Einleitend ist noch festzuhalten, dass SOE durch mehrere Referenzen zu SOI gekennzeichnet ist. Sowohl Text als auch Musik betreffend. Wir finden darin konkret Ausschnitte der Songs "Iris", "Volcano" und "Song For Someone" des letzten Albums. Ist U2 nichts mehr eingefallen und mussten sie daher unweigerlich zum Selbstplagiat schreiten? Nein. Diese Referenzen haben System und sind auf die literarische Vorlage von William Blake zurückzuführen.

Doch nun zu den einzelnen Songs in chronologischer Reihenfolge:

1. Love Is All We Have Left

Der Opener des Albums beginnt mit elektronischen Tremolo-Sounds und ist ein dunkler, sphärischer Track der sowohl Endzeitstimmung als auch Hoffnung vermittelt, wenn Bono singt "there is no time not to be alive" und gleichzeitig einen düsteren Einblick in sein Seelenleben offenbart. Wenn man die wichtigsten Themen des Albums beschreiben möchte, sind dies 1. die Sterblichkeit des Menschen, 2. die politische Situation in den USA und Donald Trump, 3. die Flüchtlingskrise und 4...natürlich die Liebe!
Der erste Track ist in diesem Sinne als einführende Ouvertüre zu verstehen. Den Stimm-Vocoder kennen wir gut auch von Coldplay. Eine nicht ganz unbeabsichtigte Anlehnung? Egal, er passt zu diesem Track.

2. Lights Of Home

Dieser Track schließt stimmungsmäßig an den Opener an, auch wenn er völlig anders instrumentiert ist. Ein Akustik-Gitarren-Riff und Schlagzeug eröffnen dieses Stück, das inhaltlich das Thema Sterblichkeit behandelt. Bezug nehmend auf Bonos Fahrradunfall im Central Park in New York vor einigen Jahren und spätere, nicht näher bekannte Ereignisse rund um seine Gesundheit, singt er über "bright lights in front of me" und dass er irrtümlich meinte, über einen "head harder than the ground" zu verfügen. Bonos Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit.
Musikalisch hören wir zwischendurch ein kurzes Slide-Solo und am Ende die erste Referenz zu SOI - in diesem Fall zum Song "Iris" mit der identen Textzeile "Free yourself to be yourself, if only you could see yourself".

3. You're The Best Thing About Me

Der erste Stilbruch. Die erste Single-Auskoppelung ist der Versuch eine möglichst charttaugliche Popnummer zu produzieren. Das gelingt grundsätzlich auch ganz gut, wenn man die eingängigen Melodien betrachtet. Dennoch hört man, dass an diesem Stück mehrere Produzenten gewerkt haben. Die Produktion klingt nicht aus einem Guss. Hier wurden offensichtlich mehrere ursprünglich nicht für einander gedachte Teile zusammengefügt und das hört man.
Dennoch auf jeden Fall ein Ohrwurm, der von U2 bereits mehrere Male live im Rahmen der "Joshua Tree Tour 2017" gespielt wurde. Ein eingängiger Track, der bekanntlich in letzter Sekunde vor Veröffentlichung nochmals neu von Steve Lilliwhite gemischt wurde. Zum besseren? Wer die ursprüngliche "SIFI-Version" des Songs kennt, weiß leider Nein. Mit Abstand am Stimmigsten ist die ebenfalls bereits schon länger veröffentlichte Akustik-Version des Songs, die jedoch – anders als der wenig gelungene Kygo-Remix - leider nicht auf dem Album enthalten ist.

4. Get Out Of Your Own Way

Weiter geht die Anbiederung an die Charts. Die erste Assoziation zu diesem Song ist Coldplay. Und das liegt nicht nur an dem Videodreh, der von U2 in Mexiko mit jeder Menge Konfetti durchgeführt wurde, sondern auch am Arrangement des Songs. Breite Layers, viele "Haaaas" zum Mitsingen und ein eingängiger Refrain. Die Melodie der Strophe ist aber wirklich gelungen und gehört zum Besten, was dieses Album zu bieten hat. Kurzzeitig hören wie Edge's E-Gitarre, die beim Solo ganz im Stile alter Produktionen (zB Sunday bloody Sunday auf "War") mit einer identen Akustikgitarre gedoppelt ist. Schöne Reminiszenz an alte U2-Produktionen. Schön ist auch die Steigerung und Verdichtung des Sounds am Ende dieses Tracks.

5. American Soul

Zwischen Track 4 und 5 hören wir Kendrick Lamar, zeitgemäßer Rapper, der insbesondere wegen seiner politischen und sozialkritischen Texte die Aufmerksamkeit von U2 auf sich gezogen hat. Ein passender Übergang zum US-kritischsten Song des Albums, der voll und ganz Donald Trump gewidmet ist. Wir hören, dass die USA nicht ein "Land" sondern eine "Idee" seien, ein "Gedanke der Güte offenbart", ein "Traum der der ganzen Welt gehört" usw. Der Song ist der einzige Rock-Song das Albums, was für eine der größten "Rock-Bands" der Welt eigentlich gar nicht einmal so viel ist.
Musikalisch hören wir eine Fuzz-Gitarre und die zweite Referenz zu SOI - der Refrain ist dem Song "Volcano" entnommen. Hier scheiden sich nun die Geister! Zugegebenermaßen ist der kopierte Teil der coolste von Volcano. Aber als Refrain eines neues Songs? "You are Rock n' Roll!"
Nicht dass das nicht zu toppen gewesen wäre. Aber lassen wir das einmal so dahingestellt. Am besten gefallen hier Edge's Backing Vocals zwischendurch und der Zwischenteil mit dem Appell an Trump: "Let there be unity, let there be community...for refugees like you and me." Der Satz endet mit einer Liaison aus "Refugee" und "Jesus". Schöne Idee!

6. Summer Of Love

Nachdem der Pop-Teil und der Rock-Song des Albums vorbei sind, geht es jetzt atmosphärisch weiter. Hier hören wir kurz mal wieder ein wenig Gitarre, jedoch ein Edge-untypisches Jazz-Lick. Dazu ein paar coole Shaker. Der Song verbreitet seinem Titel entsprechend Sommerstimmung.
Ein Brief von Bono an seine Frau Ali? Dagegen sprechen Passagen die unter anderem auf Syrien (Aleppo) Bezug nehmen. Bemerkenswert ist, dass hier beim ruhigen Zwischenteil niemand Geringerer als Lady Gaga die Backing Vocals beisteuert. Sind U2 mit SOE etwa völlig Gaga geworden? Diese Frage muss jeder für sich selbst beantworten.

7. Red Flag Day

Wieder ein Stilbruch. Wir hören hier eine Funk-Gitarre und einen Bass-Groove. Der Vibe des Songs erinnert unweigerlich an U2's Anfangsjahre und dieser könnte zB auch auf "War" sein. Besonders lässig sind die instrumentalen "Half-Time"-Teile zwischendurch, die für U2-Verhältnisse ungewöhnlich grooven. Eine von nur zwei Up-Tempo-Nummern des Albums die Spaß macht.

8. The Showman

Hier besingt Bono sich selbst. Und das klingt ebenfalls wie aus U2s Anfangszeiten. Beim ersten Mal Hören stellt man sich unweigerlich die Frage, ob dieser Refrain denn wirklich ernst gemeint ist? "You look so good - a little more better" tönt es und man fühlt sich automatisch in die 50er oder 60er Jahre zurückversetzt. Ist das etwa ein unveröffentlichter Beatles-Refrain? Die B-Seite von "I want to hold your hand"? Oder doch eine uralte Rolling Stones Nummer?
Dieses Lied ist sehr tanzbar und würde gut in einen englischen Tanzclub der 60er Jahre passen. Schön ist die 2-stimmig gesungene 2. Strophe. U2 verneigen sich hier vor den Beatles und wollen, dass wir dazu tanzen. Machen wir ihnen doch diese Freude.

9. The Little Things That Give You Away

Das Highlight des Albums, das bereits im Rahmen der "Joshua Tree Tour 2017" live gespielt wurde. Ein U2-Klassiker und großer Song. Starke Melodie, genialer Text. U2 at its best! Bono offenbart uns hier die kleinen Dinge, die ihn entlarven. Unter anderem seien das "the words you cannot say" und sein "big mouth in the way". Wundert Zweiteres irgendjemanden?
Besonders schön ist die Dynamik dieses Songs. Die Steigerung am Ende ist das, was U2 in all den Jahren groß gemacht hat. Endlich ist sie da, die treibende Gitarre, die wir lieben und schätzen gelernt haben. Sogar ein kleines Solo dürfen wir hören. Diesem Song ist ein Fixplatz in der Setlist der bevorstehenden "E&I"-Tour gewiss!

10. Landlady

Ein Teil des Albums wurde in den "Electric Ladyland Studios" in New York aufgenommen. Von diesem Namen könnte auch der Titel dieses Songs inspiriert worden sein. Angeblich ein Brief von Bono an seine Frau Ali. Eine ruhige, sphärische Ballade. "Landlady - shows me the stars up there "und "- takes me up in the air". Eine Ode an Bonos Frau. Einmal mehr. Wieder eine großartige Melodie und ein Titel, der auch sehr gut in eine Musical-Produktion passen würde.
Hervorzuheben ist besonders der einladende Mitsing-Teil am Ende des Songs. Großes Kino (bzw. Theater)!

11. The Blackout

Der nächste Stilbruch. Und dennoch ein Highlight des Albums. "Achtung Baby"-Vibe. Ein Intro ala "Zoo Station". Den von Bono besungenen Dinosaurier, der sich wundert, warum er immer noch auf der Erde spazieren geht, kann man zwischendurch immer wieder hören (in Form von Edge's Gitarre). Definitiv der coolste Song des Albums. Angelehnt an Depeche Mode. Lässiges verzerrtes Bass-Riff, coole Industrial-Sounds. Bono lehrt uns, dass wir manchmal erst in der Dunkelheit, wenn die Lichter ausgehen, zu sehen lernen. Eine schöne Metapher. Und die Demokratie liegt laut Bono flach auf ihrem Rücken. Wieder geht es offenbar um Trump und die USA. Der allererste Release von SOE, der bereits Anfang September als Live-Video im Internet veröffentlicht wurde.
Ein Spitzen-Song, auch wenn er stilistisch eigentlich nicht wirklich auf dieses Album passt.

12. Love Is Bigger Than Anything In Its Way

Bonos Brief an seine Kinder bzw. alle Kinder dieser Welt. Schöne Botschaft. Eine Hymne mit starker Melodie, klassischem Klavier und coolem Arrangement, geprägt durch die wiederkehrende und eingängige Synth-Melodie zwischendurch Marke Coldplay.
Ein U2-Klassiker, den wir bestimmt live auf der nächsten Tour hören werden, zumal es sich dabei angeblich um Edge's Lieblingssong des neuen Albums handelt.

13. 13 (There is a light)

Wie zumeist auf U2-Alben ein ruhiger Closer, geprägt von Synthesizern. Und die nächste und zugleich letzte Referenz zu SOI. Diesmal zum "Song For Someone" des vorangegangenen Albums, die Textzeile mündet schließlich in "someone like me" (zur Aufklärung). Equalizer auf den Drums verstecken diese im Hintergrund und sorgen für die markante Schwere dieser Nummer.

Bonus-Tracks

Nicht unerwähnt bleiben sollen die Bonus Tracks der Deluxe Edition. Mit Abstand der Höhepunkt ist die Streicher-Version von "Lights of home". Absolut großartig. Episch und bombastisch! Ev. hören wir U2 ja demnächst einmal mit großem Orchester? Das wäre durchaus interessant. Von den anderen Tracks ist noch "Book Of Your Heart" erwähnenswert, die sonstigen sind Remixes von "Ordinary Love" und "Best Thing" und eher mittelmäßig.

Gesamtbewertung:

SOE ist sowohl inhaltlich als auch musikalisch als Einheit mit SOI zu sehen, gefällt mir jedoch im direkten Vergleich deutlich besser als sein Vorgänger. Von fünf Sternen würde ich drei Sterne vergeben. Schöne Kompositionen, berührende Texte und vor allem großartige Melodien. Werden wir frische und experimentelle Songs wie z.B. "Wire" von "The Unforgettable Fire", die gänzlich ohne klassische Song-Strukturen auskommen und von der Dynamik und Spontanität des kreativen Schaffens leben, ohne gezielt auf den aktuellen "Zeitgeist" eingehen zu wollen, jemals wieder von U2 hören? Die musikalische Entwicklung der letzten 20 Jahren nüchtern betrachtend, wird man diese Frage wohl eher mit "Nein" beantworten müssen.

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