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beLIEve: Der Krimi um Bonos vergessenen Hut

Fake News, obskure Theorien und allerlei abstruse Auffassungen scheinen aktuell leider Hochkonjunktur zu haben. Wir bewegen uns in Zeiten, in denen gefühlte Wahrheiten, Halbwissen und Bauchgefühle immer stärker gesicherten Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnissen vorzogen werden. Innerhalb unseres Tätigkeitsfelds und Wirkungskreises ist das kein gänzlich neues Phänomen. Denn auch um U2 ranken sich einige Mythen, Urban Legends und zweifelhaft recherchierte Newsberichte. Viele davon sind mittlerweile ohne großes Hinterfragen schon in den Kanon der Netzkultur eingegangen. Vielleicht ist ja jetzt die Zeit, da mal aufzuräumen? In unserer neuen Serie beLIEve wollen wir einige dieser U2-Geschichten mal genauer unter die Lupe nehmen.

Wir starten unsere Reihe mit einem berüchtigten Klassiker: Der Behauptung, Bono habe sich einmal einen im Hotel vergessenen Hut mit einem Erste-Klasse-Ticket nach Italien einfliegen lassen. Die Story hat ihren Ursprung im britischen Boulevardblatt "The Sun". Es handelt sich demnach um das "Pavarotti & Friends"-Konzert in Modena am 27. Mai 2003. Zwar ist der Original-Artikel nicht mehr aufrufbar, doch im Newsarchiv unserer Freunde von atu2.com ist eine Abschrift davon zu finden. Veröffentlicht wurde der Bericht am 28. Mai 2003, nur einen Tag nach dem Auftritt in Modena. "Von Panik erfasst" weil er seinen "Lieblingsfilzhut" ("favourite trilby hat") nicht eingepackt habe, habe er unterm Strich 1.000 britische Pfund ausgegeben, um den Hut in aller Eile mit British Airways ab London Gatwick nach Bologna und schließlich zum Konzert-Venue transportieren zu lassen. Bono hätte "sich geweigert ohne den Filzhut die Bühne zu betreten." Die Geschichte erfreut sich insbesondere in den Social Media Kommentarspalten großer Beliebtheit und wird mittlerweile auch von deutschsprachigen Medien als Fakt dargestellt (z.B. Spiegel Online, Bild, t-online.de, Deutsche Welle, Yahoo oder freenet). Sie wird im Netz meist dann ausgepackt, wenn es darum geht, Bonos Charakter und Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen (also so gut wie immer). In manchen Varianten der Geschichte wird sogar ein Privatjet für den Hut gebucht, was aber nicht der Original-Story der "Sun" entspricht.

Doch was steckt dahinter? Verdächtig ist zunächst einmal die Informationsdichte und Detailfülle des Berichts. Berichtet wird von insgesamt £1.000, die Bono für die Aktion ausgegeben haben soll (entspricht nach dem damaligen Wechselkurs 1.380 €). Davon soll die Fahrt vom Hotel zum Flughafen Gatwick £100, das Flugticket exakt £442 und die Fahrt in Italien £150 gekostet haben. Sogar die exakte Abflugzeit, Versicherungskosten und Trinkgeld (£200) werden aufgeführt und man weiß, dass Flugbegleiter*innen den Hut von seinem Erste-Klasse-Sitz ins Cockpit verlegt haben – aus Sorge er würde verloren gehen oder zerdrückt werden. All dies berichtet ein unbenannter "Insider". Wahrscheinlicher und glaubhafter wäre es gewesen, wenn diese Story in begrenzter Detailfülle über die verrückten Anekdoten von Airline-Mitarbeitern oder der Flugbesatzung an die Klatsch-Presse geraten wäre. Oder über die Berichte eines Londoner Taxiunternehmens, das für einen extravaganten Prominenten einen abenteuerlichen Auftrag entgegengenommen hat. Oder über das Flughafenpersonal in Gatwick, die vom Management eines Superstars Instruktionen bekommen haben, einen von einem Taxifahrer übergebenen Hut durch den Sicherheitscheck an die Airline zu überreichen – ein Unternehmen, das gerade anderthalb Jahre nach 9/11 sicherlich nicht vollkommen unbemerkt geblieben wäre. Nicht nur entsprang die ganze Story nicht aus ebensolchen plausiblen Quellen, sie fand auch in keinster Weise eine nachträgliche Bestätigung durch dieselben. Stattdessen haben wir eine lückenlose Rekonstruktion des Gesamtereignisses vom Londoner Hotel bis zur Konzertstätte in Modena auf Basis der Aussagen nur einer Quelle. Ein Wissen, dass nur direkt von einem engen Mitarbeiter im Bandmanagement stammen kann, der die angebliche Aktion mit organisiert hat. Hierbei stellt sich nun die Frage, ob und warum jemand aus diesem vertrauten Bandumfeld noch am selben oder am nächsten Tag diese Informationen bis ins kleinste Detail mit der britischen Yellow Press teilen sollte. Das gilt es doch stark zu bezweifeln.

Die größten Zweifel an der Geschichte wirft jedoch der "trilby hat" selbst auf. Während die Sun mithilfe ihres perfekt informierten Insiders überraschend detailliert über jeden Schritt der Aktion Bescheid zu wissen scheint, ist es ausgerechnet der Hut selbst, das zentrale Corpus Delicti und das einzig mühelos nachprüfbare Element der Erzählung, wo das Blatt nachweislich komplett danebenliegt. Denn eine solche Kopfbedeckung hat Bono bei diesem Auftritt gar nicht getragen. Stattdessen hatte er eine olivgrüne, umgekehrte "patrol cap" – eine Schildmütze im Army Stil - auf, wie es TV-Aufnahmen der Show aufzeigen. Auf einen Bono mit Filzhut konnte man eher im Zeitraum 1998 – 1999 treffen (siehe etwa das Video zu "Sweetest Thing" von 1998). Für das Jahr 2003 hingegen ist diese Kopfbekleidung nicht nachzuweisen. Der markante Cowboy Hut, den viele mit der Geschichte assoziieren, kam erst ab Ende 2004 zum Einsatz.


Könnte die Geschichte aber grundsätzlich stimmen und Bono anstatt des beschriebenen Filzhuts eben seine olivgrüne Mütze eingeflogen haben und die falsche Information über die Art der Kopfbedeckung die einzige journalistische Schlampigkeit darstellen? Hierzu ist zunächst zu klären, wie oft diese Mütze im relevanten Zeitraum denn sonst so getragen wurde. Der letzte Auftritt vor dem Pavarotti-Konzert war am 23. März 2003 bei der Oscar-Verleihung. Hier trug Bono keine Mütze. Auch beim nächsten Auftritt nach dem Pavarotti-Konzert, der Eröffnung der Special Olympics in Dublin am 21. Juni 2003, sind weder Hut noch Mütze zu sehen. Weitere acht öffentliche Auftritte (ohne Song Performance) sind aus der ersten Jahreshälfte 2003 bildlich überliefert (09.01.03 | 19.01.03 | 20.02.03 | 21.02.03 | 28.02.03 | 16.03.03 | 07.05.03 | 22.05.03) – nur in zwei davon trägt er die grüne Schildmütze. Sie war somit wohl kaum ein unverzichtbares Accessoire seines damaligen Bühnenoutfits und hat sonst sein öffentliches Erscheinungsbild auch nicht in solch besonderer Weise geprägt, damit es für Bono unvorstellbar gewesen wäre, ohne sie die Bühne zu betreten, wie der Artikel suggeriert. Bleibt noch die Frage, ob die Mütze beim Auftritt in Modena eine besondere Rolle gespielt hat. Zu Beginn des dritten Songs, "Ave Maria", nimmt Bono die Mütze ab - wohl als Geste der Andacht. Man könnte nun eine Theorie um diese Symbolik und die unbedingte Notwendigkeit einer Kopfbedeckung dafür spinnen, denn es ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass die Geste vorher eingeplant war. Diese müsste allerdings von Bono als so wichtig und den Auftritt derart prägend eingeordnet worden sein, dass es eine Aktion mit solch hohen Kosten und Organisationsaufwand rechtfertigt. Das erscheint nun doch unwahrscheinlich, zumal im äußersten Notfall auch sicherlich jeder Designer- oder sogar Ramschladen in Bologna eine ähnliche Mütze im Sortiment gehabt hätte und es diesen enormen Zeitdruck (wie gleich noch festgestellt wird) auch gar nicht gab. Hätte Bono zum Superbowl-Auftritt 2002 die Jacke mit eingenähter US-Flagge kurzfristig einfliegen lassen, wäre das eine wesentlich plausiblere Story gewesen.

Die Authentizität der im Sun-Artikel angegebenen logistischen Daten und Preise kann leider nicht oder nicht mehr in befriedigendem Maße recherchiert werden. Zumindest kann bestätigt werden, dass der Flughafen Bologna bis April 2012 tatsächlich von British Airways ab London Gatwick angeflogen wurde. Laut Bericht war der Hut in einer Maschine, die am Montag, 26. Mai 2003 – also einen Tag vor der Show – um 13:40 Uhr britischer Zeit abflog. An diesem Tag fanden lediglich die Rehearsals für den Auftritt am kommenden Tag statt. Nicht nur fällt angesichts dieser Erkenntnis die komplette Grundprämisse von Panik und Eile in sich zusammen – auch ergibt sich ein chronologisches Problem. Denn die Rehearsals sind mit einigen Fotos auf Getty Images dokumentiert. In diesen Fotos, die wahrscheinlich am frühen bis späten Nachmittag aufgenommen wurden, ist bestätigt, dass Bono die grüne Mütze bereits trägt. Ein Direktflug von Gatwick nach Bologna (mittlerweile mit Easyjet) dauert 2 Stunden und 10 Minuten. Rechnet man noch die Stunde Zeitverschiebung ein, dann dürfte die Maschine kurz vor 17:00 Uhr italienischer Zeit am Flughafen in Bologna gelandet sein. Die Strecke vom Flughafen Bologna zum Veranstaltungsort "Parco di Piazza D'Armi Novi Sad" beträgt mit dem heutigen Straßennetz laut Google Maps 38 km (kürzeste Strecke) bzw. 48 km (längste Strecke), was einer Fahrtzeit von 36 – 41 Minuten entspricht. Zeitdruck dürfte der Fahrer aus o.g. Gründen nicht gehabt haben (im Artikel ist von "rasen" die Rede). Die Mütze hätte Bono, sofern alles glatt gelaufen wäre, also frühestens um 18:00 Uhr erreicht, wenn man noch eine Übergabezeit am Flughafen mit einberechnet. Es ist denkbar unwahrscheinlich, dass all diese Fotos erst danach aufgenommen wurden, zumal neben den Proben auch noch ein Pressetermin stattfand.


Kam erst während der Vertigo-Ära zum Einsatz: Der Cowboy Hut
Fotocredit: Ricardo Stuckert/PR Agência Brasil (Foto wurde zugeschnitten) | CC BY 3.0 br


Zuletzt ist noch zu überprüfen, ob Bono zuvor überhaupt in London war. Wir wissen zumindest, dass er am Donnerstag, 22. Mai 2003 zusammen mit Bob Geldof einen Termin mit dem damaligen britischen Premierminister Tony Blair in London wahrgenommen hatte. Laut einem Bericht von USA Today war Bono allerdings am Samstag, 24. Mai 2003 bei der Geburtstagsparty von Noami Campbell in St. Tropez zugegen. Es scheint wahrscheinlich, dass er das Wochenende in seinem Zweitwohnsitz in Eze verbracht hat, bevor er von dort aus am Montag nach Italien aufgebrochen ist. Das Szenario, dass er stattdessen für den Sonntag zurück nach London geflogen ist, nur um dort seinen Hut im Hotel zu vergessen, erscheint doch recht unwahrscheinlich. Genauso zweifelhaft ist die Vorstellung, dass ein in einem Londoner Luxushotel (wo Bono zumindest um den 22. Mai eingecheckt gewesen sein dufte) vergessener Hut eines "high-profile" Gasts ohne Rückmeldung des Hotelpersonals tagelang in der gemeinen Lost & Found Box liegen bleibt, ehe von Bono selbst dann eine Nacht- und Nebel-Rettungsaktion eingeleitet wird, nachdem er vier Tage später panisch den Verlust dieses doch so bedeutsamen Accessoires feststellt.

Unsere Bewertung: Die Wahrscheinlichkeit der Geschichte basiert auf zu vielen äußerst unsicheren Variablen: Falls die Sun sich bei der Art des Huts vertan hat und falls Bono die Schildmütze für den Auftritt und sogar für die Proben tatsächlich als unverzichtbar erachtet hat und falls Bono das Fehlen dieser Mütze erst Tage später aufgefallen ist und falls das Londoner Hotel innerhalb dieses Zeitraums keinen kleinen Anruf getätigt hat und falls die Proben und Pressetermine erst am Montagabend losgingen und falls ein Mitglied des Managements bereit war, alle Details darzulegen, damit sich die britische Klatschpresse an Bonos übertriebenen Starallüren laben kann – dann, und nur dann kann diese Geschichte so passiert sein. All diese Variablen sind jedoch, wie dargestellt, individuell betrachtet schon wenig plausibel. Das Gesamtkonstrukt des Hut-Mythos, das aus all diese Annahmen gebildet wird, ist daher umso mehr in die Tonne zu werfen.

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